Probsteier Trachten: Kleidung als Zeichen von Wohlstand

Wenn irgendwo in der Probstei ein alter Koffer auf dem Dachboden gefunden wird, könnte kurz darauf das Telefon bei Christian Lantau klingeln. Wenn sich in dem Koffer nämlich alte Trachten befinden, weiß der Mann aus Laboe sofort, aus welcher Zeit sie stammen, was es für eine Tracht ist oder wie alt der Träger gewesen sein mag. Lantau ist Probsteier Trachten-Experte. Einer, der sich sein Wissen selbst erarbeitet hat.

Alles fing mit einer Tracht seiner damaligen Freundin Gesa an. Die Beiden tanzten in der Probsteier Tanz- und Trachtengruppe, die es seit 1977 im Ostseebad Schönberg gibt. Damals trugen die meisten Leute nachgemachte Trachten. Nur Gesa nicht. Als gebürtige Sinjen aus Wisch, alter „Bauernadel“, trug sie zum Tanz die alte Festtagstracht ihrer Mutter. Lantau fiel der qualitative Unterschied nicht nur auf, er begab sich auch auf Recherche. Er las Bücher, ging in Museen, betrachtete alte Malereien und sprach mit den Probsteiern. Dabei tauchten immer wieder historische Westen, Hauben, Gürtelschnallen und sogar Socken auf. „Die Probsteier sind Aufbewahrer“, sagt Lantau. Bis heute finden sich auf den Dachböden der reichen Bauernfamilien Truhen und Kisten mit historischen Trachtenteilen – davon ist Lantau überzeugt. „Die Dachböden sind so groß und die nächste Generation stellt einfach immer nur etwas davor.“

Die meisten Fundstücke sind entweder Teile von der Festtags- oder der Sommertracht, wie sie von 1820 bis 1855 Mode war. „Sie war ein Ausdruck des Vermögensstandes“, erklärt Lantau. Zur besitzenden Schicht gehörten damals in der Probstei rund 180 Bauernfamilien. Die Trachten waren im Zuschnitt immer gleich. Die Röcke der Sommertracht bestanden allerdings im Gegensatz zur Festtagstracht aus Brokat. „Sie kosteten damals 120 bis 150 Reichsmark“, sagt Lantau. „Das entsprach ungefähr dem Jahresgehalt eines Arbeiters.“ Dem Vermögen des Trägers passten sich auch die Stoffe und die Größe der Knöpfe an. Je mehr Geld er hatte, desto reicher verziert waren die Oberteile und desto größer waren die sechzehn beziehungsweise zwölf Silberknöpfe an den Oberteilen von Mann und Frauen. Diese mussten bei der Auswahl ihrer Garderobe zudem auf Familienstand und Anlass achten. So wurde die Farbe des Tuches mit dem Alter der Trägerin immer dunkler. Auch im Trauerfall mussten der so genannte Mützenfleck, ein mit Gold- und Silberfäden kunstvoll verziertes Stoffstück oben auf der Haube, sowie Tuch und Rock schwarz sein.

Aber nicht nur das Material war kostspielig. Da die Träger ihre Trachten nicht selbst nähten, hing eine ganze Industrie an der Erstellung von Haube, Hemd, Weste, Rock, Unterrock, Schürze und Socken. Buntstickerinnen oder Näherinnen stellten die Trachten her. Und sogar die Wäsche der guten Stücke wurde extern vergeben. So gab es in jedem größeren Dorf etwa die Hasenwäscherin, die die Krushasen, weiße Festtagsstrümpfe aus Schurwolle, wusch und zum Trocknen auf ein dem Fuß und Bein nachempfundenes Brett spannte.

Heute sind nur wenige Trachtenteile übrig geblieben – vor allem Alltagstrachten gibt es kaum noch. Mit der Industrialisierung verschwanden auch die Trachten aus dem Dorfbild. Grund war unter anderem die Erfindung der Konfektion. Nun war es um einiges günstiger, qualitativ hochwertige Mode zu kaufen. Die Stoffe der Trachten wurden umgearbeitet. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Stoffe anderen Bestimmungen zugeführt. Sie dienten zum Bespannen von Stühle oder als Kissenbezug.
Lantaus Interesse für die historischen Trachten wurde Mitte der 1980er auf die nächste Stufe gehoben. „In der Tanz- und Trachtengruppe hatten wir Hauben auf, die spöttisch „Laboer Sturzhelme“ genannt wurden, weil sie zu groß waren“, erinnert sich der Hobby-Historiker. Also versuchte er, die Haube seiner heutigen Frau Gesa nachzuarbeiten. „Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich es so hatte, wie ich wollte.“ Aber der Grundstein für ein neues Hobby war gelegt. Fingerfertigkeit erlangte Lantau unter anderem bei der Herstellung der Trachten für seine beiden Kinder, die ebenfalls in der Trachtengruppe tanzen. „Ich besitze bestimmt zehn verschiedene Trachten“, schätzt Tochter Silke. Mittlerweile stickt ihr Vater sogar die Blumen der Oberteile nach historischem Vorbild selbst, ebenso wie die Hemdärmel der Männertracht.

Die Materialien finden Christian und Gesa unter anderem im Internet, aber auch in Gardinenabteilungen. Einige Westen waren einmal Kissenbezüge. Die Knöpfe sind nachgemachte Originale, die sich Lantaus haben schenken lassen oder beim Kunstschmied bestellt wurden. Beruflich will der gelernte Erzieher und Verkäufer im Einzelhandel aber nicht umsatteln. Denn bezahlen könnte so eine Tracht vom Haubenfleck bis zum Rocksaumen niemand. Ein Meter Seidendamast kostet rund 400 Euro. Nur um den Rock fertigzustellen, benötigen Gesa und Christian etwa einen Tag. Für Freunde und den Verein macht Lantau eine Ausnahme. Dann reiste er auch schon mal zum Landesmuseum Gottorf in Schleswig, um sich das Stickmuster der Originale anzuschauen und zu kopieren.

Er ist selbst ein Musterexemplar der Gattung „Aufbewahrer“. Mittlerweile haben Christian und Gesa Lantau rund 100 Trachten- und Schmuckteile zusammengetragen. Sie besitzen zahlreiche Koffer und Kisten, in den Hauben, Westen, Röcke oder Silberknöpfe lagern. Alles ist säurefrei und mottensicher verpackt. Und wer weiß, wie viel noch hinzukommen wird. Denn den Lantau-Kindern wurde der Trachten-Virus bereits mit in die Wiege gelegt.

Im April 2017 hat Christian Lantau auch ein Buch über die Probsteier Tracht und ihre Entwicklung von 1870 bis 2016 herausgegeben. Auf 84 Seiten finden sich Zeitdokumente, Erlebnisberichte, Erläuterungen sowie historische Aufnahmen und farbige Fotografien zum Thema. Das Buch ist in einer Auflage von 200 Exemplaren erschienen und in den Buchhandlungen in Schönberg, Laboe, Lütjenburg, Heikendorf und Preetz erhältlich.

Probsteier Trachten sind auch im Probstei Museum in Schönberg zu sehen.

 

(Dieser Artikel erschien im März 2012 in der „LiebesLand“)

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