Gaylon ist in seinem Element: Er ist laut – nicht nur, weil er den Motor übertönen muss, sondern weil er über sein Lieblingsthema referieren darf. Vielleicht will er an diesem trüben, feuchten Morgen gute Stimmung verbreiten. Das ist aber gar nicht notwendig: Alle Passagiere lächeln trotz des leichten Seegangs. Es ist kalt. Durch die offenen Seiten des Bootes dringen Kälte und Feuchtigkeit herein. Zum Glück habe ich eine Jacke von Gaylor bekommen. Als die Lulu zu ihrer Lobster Tour aus dem Hafen in Bar Harbour, Maine, ausläuft, läuft es mir kalt die Arme rauf.
Die ‚Lulu‘ ist ein Downeast-Boat, ein traditioneller Bootstyp aus Maine, der dort seit dem 19. Jahrhundert zum Lobster fischen verwendet wird. Heute dient es als Touristenboot und verfügt daher nicht mehr über das offene Arbeitsdeck, sondern über Bankreihen für wissensdurstige Urlauber. So stehen nicht nur Kapitän Will und Gaylon trocken. Wir sind vor Regen geschützt – trotzdem ist es an diesem Frühsommertag weder sonnig noch warm. Es zieht gehörig auf dem kleinen Boot. „Hey“, meint Gaylon, „ihr bekommt heute das echte Maine-Erlebnis: Es regnet und ist neblig!“ Er grinst.

Der Motor brummt, während sich die Küste von Mount Desert Island langsam entfernt. Vorbei geht es an alten Sommerhäusern und an Granitfelsen. Gaylor erzählt vom dem Guiled Age, dem ‚vergoldeten Zeitalter‘ zwischen etwa 1870 und 1900, das die prunkvollen Herrenhäuser an der gesamten Ostküste sprießen ließ. Wer hier an Bord ist, bekommt eine Panoramatour mit Beifang. Kaum hat die ‚Lulu‘ die Küste hinter sich gelassen, holt Will die Fangkörbe hoch, klaubt die Hummer heraus, entfernt gleich noch die Pocken, die sich an die Scheren festgesetzt haben, und gibt sie an Gaylon weiter.


Jetzt sind wir dran: Wir dürfen mit einem speziellen Werkzeug dicke, gelbe Gummibänder um die Greifwerkzeuge befestigen. Dann kommen die Tiere in Schalen und dürfen betrachtet werden, während Gaylon alles über Lobster berichtet, das es zu wissen gibt – vom Unterschied zwischen Männchen und Weibchen, über die Größe der Scheren bis zu den Laichgebieten und Fangzeiten.




Die Fahrt geht weiter bis zum Egg Rock Lighthouse, das einsam und verlassen auf einer kleinen Felseninsel thront. Robben dösen auf den Klippen, Seevögel kreischen im Wind, und über allem liegt der salzige Atem des Atlantiks. Es wurde 1875 errichtet, um Schiffe vor den gefährlichen Untiefen und Felsen der Frenchman Bay zu warnen. Die Insel selbst ist nur etwa 5 Hektar groß, flach, karg bewachsen und von scharfen Felskanten umgeben – daher der Name Egg Rock (Eierfelsen) ist vermutlich inspiriert von den vielen brütenden Seevögeln. Das Leuchtturm-Ensemble besteht aus einem quadratischen, weißen Wohnhaus mit rotem Dach, auf dem ein kurzer achteckiger Turm thront, und einem kleinen Nebnegebäude. Jahrzehntelang lebten dort Leuchtturmwärter mit ihren Familien – abgeschnitten von der Welt, versorgt nur per Boot. Der Leuchtturm wurde 1976 automatisiert, seither ist kein Wärter mehr nötig. Egg Rock ist heute auch Schutzgebiet für Seevögel und Robben.


Nach einer Runde um Gaylons Lieblingsinsel – wie er sagt – geht es zurück. Dabei bekommen die Besucher weitere Details zu Maines Fischerei und den Gepflogenheiten der Fischer sowie lyrische Ergüsse ihres Reiseführers zu hören. Die Hummer kommen natürlich zurück ins Meer. Selbstverständlich ohne gelbe Gummibänder an den Scheren. Es ist eigentlich ganz einfach die Tiere am Unterleib zu packen – nur die Überwindung ist schwierig. Nicht, dass das Tier doch kneift.

Als die ‚Lulu‘ schließlich wieder in den Hafen von Bar Harbor zurückkehrt, sind alle überzeugt: Das war kein touristisches Spektakel, sondern ein Blick hinter die Kulissen einer alten Küstentradition mit einer gehörigen Prise Originalität und Frohsinn.
